Auf der Internetseite ihrer Kanzlei informiert Sandra Günther ausführlich über häusliche Gewalt und über die rechtlichen Möglichkeiten, sich davor zu schützen. Ratsuchenden gibt sie dort eine unmissverständliche Botschaft: „Sie haben nur ein Leben, schützen Sie es!“
Täglich hat die Anwältin mit Betroffenen von häuslicher Gewalt zu tun. Und fast immer sind es Frauen, die misshandelt, bedroht oder gedemütigt werden. Besonders schlimm ist die Situation in Familien mit Kindern.
Günther möchte wachrütteln und Auswege aufzeigen. Doch gerade der erste Schritt fällt den Betroffenen oft schwer. Das weiß die Juristin leider nur zu gut: „Das Thema ist immer noch mit sehr viel Scham behaftet. Viele denken, sie hätten persönlich versagt und wären schuld. Ich habe viele Frauen, die bei mir sitzen und die sagen: ‚ Ja, er hat mich geschlagen, aber da habe ich ja auch vorher das und das gemacht.‘ “ Anstatt die Verantwortung für Gewalt dem Täter zu geben, hinterfragen die Opfer also das eigene Verhalten. Von außen betrachtet erscheint das paradox.
In vergifteten Beziehungen ist Macht ungleich verteilt
Menschen, die eine gleichberechtigte Partnerschaft führen, können Konflikte offen ansprechen. Im besten Fall finden sie eine Lösung, im schlechtesten Fall gehen sie getrennte Wege. Anders sieht das bei toxischen Beziehungen aus. In diesen sozusagen vergifteten Strukturen besteht ein Machtgefälle, bei dem ein*e Partner*in wunde Punkte und Unsicherheiten der anderen Seite ausnutzt. Es kommt zu Manipulationen und emotionalem Missbrauch. Sich aus einer derartigen Abhängigkeit zu lösen, fällt Betroffenen oft unglaublich schwer.
Noch komplizierter wird es, wenn dringend benötigte Unterstützung ausbleibt. Es kommt immer wieder vor, dass Betroffene nicht ernst genommen werden und sich sogar rechtfertigen müssen. Nicht selten, so Sandra Günther, werde aus dem Umfeld auf die Frauen eingeredet: „Komm, probier‘s doch noch mal!“ oder: „Lass mal, wir hatten doch auch unsere Probleme.“
Goldene Hochzeit –ein Segen oder ein Fluch?
Wer Gewalt derart relativiert, macht es sich einfach. Denn dann muss man sich nicht mit Konsequenzen wie Trennung oder Scheidung auseinandersetzen. Doch statistisch ist jede dritte Ehe zum Scheitern verurteilt. Nur zu gern würden junge Paare da ihren Großeltern nacheifern, die oftmals Jahrzehnte verheiratet blieben. War „damals“ also alles besser?
Daran will Günther nicht so recht glauben. Missstände würden heute eher benannt, während man früher vieles notgedrungen unter den Teppich gekehrt habe: „Wenn wir zurückschauen, dann hat oft der Mann gearbeitet und die Frau war für die Erziehung der Kinder und für die Hausarbeit zuständig. Da gab es die Option, zu gehen, gar nicht in der Art wie heute.“ Das gesellschaftliche Bewusstsein, so die Anwältin, habe sich geändert und häusliche Gewalt in der öffentlichen Wahrnehmung einen höheren Stellenwert bekommen.
Illusionen darüber, was im privaten Bereich auch heute noch geschieht, sollte sich dennoch niemand machen. Körperliche und auch psychische Gewalt kommen in allen Schichten und Altersgruppen vor. In der Kanzlei von Sandra Günther schüttete erst kürzlich eine 78 Jahre alte Dame ihr Herz aus: Sie habe ihr Leben lang unter ihrem Mann gelitten, aber nie die Kraft gefunden, sich scheiden zu lassen. Nun wolle sie diesen Schritt endlich gehen.
Auch zu zweit sollte man auf eigenen Füßen stehen
Sandra Günther ermutigt alle, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, sich rechtzeitig Hilfe zu suchen. Auch in einer Beziehung, so die Juristin, sollten sich Frauen noch ein Maß an Selbstständigkeit erhalten. Neben eigenen Freundschaften gehörten hierzu auch alltägliche Dinge wie etwa ein eigenes Konto, um finanziell nicht vom Partner abhängig zu sein. Das habe nichts mit Misstrauen und sehr viel mit Augenhöhe zu tun. Und nüchtern betrachtet sei es ja tatsächlich so: „Man hat nur ein Leben.“
Info: Sandra Günther, Ruth Marquardt: Wenn Liebe toxisch wird. Goldegg Verlag, ISBN: 978-3-99060-325-3, 22 Euro.